Anders hören lernen Wie hört man mit Implantat?
Mehr lesen Zuletzt aktualisiert: Januar 2020Technisch gesehen sind die ersten Schritte hin zum Hörimplantat keine langwierige Sache: Hörtest – Beratung – Operation – Fertig. Innerhalb weniger Wochen oder Monate nach der Diagnose Hörverlust ist das Implantat einsatzbereit. Doch so richtig offen ist die Türe zum neuen Hören erst etwa ein Jahr nach der Implantation: Denn das Gehirn braucht Zeit, um sich an die neuen Eindrücke zu gewöhnen. Regelmäßiges Training verbindet die Implantat-Träger allmählich wieder mit der Welt des Hörens.
Reise zum neuen Hören
Nach Jahren ohne Hörvermögen den ersten Ton zu hören grenzt für viele Menschen mit neuem Cochlea-Implantat (CI) an ein Wunder. Dieser erste Ton ist der Beginn einer Reise hin zum neuen Hören. Denn mit ihm beginnt das Hörtraining. „Und das braucht Zeit“, sagt Andreas Lackner, Oberarzt an der Hals-Nasen-Ohren-Universitätsklinik Graz, Österreich. Ein Grund dafür ist der neue Klang. Mit dem Cochlea-Implantat klingt die Welt völlig anders als mit dem natürlichen Gehör: Anfangs eher monoton und blechern. Erst mit der Zeit passt sich das Gehirn an die neuen Höreindrücke an und der Klangeindruck normalisiert sich.
Die 31-jährige Louise Skinner aus Gosport, Großbritannien, erinnert sich noch gut an ihr erstes Hörerlebnis mit ihrem CI: „Als mein Implantat zum ersten Mal aktiviert wurde, war es toll, dass ich hochfrequente Töne hören konnte. Aber die Geräusche klangen so fremd und ungewohnt für mich – mir hat nicht wirklich gefallen, was ich gehört habe.“ Sie brauchte ungefähr neun Monate, bis sie sich an ihr Implantat gewöhnt hatte und Geräusche wie Vogelzwitschern und die Alarmsirene erkennen konnte.

Ein Lernprozess für das Gehirn
Denn das Gehirn verändert sich während der Taubheit oder Schwerhörigkeit: „Vor allem bei langjährig Schwerhörigen sind die Hirnregionen, die für das Hören zuständig sind, inzwischen stillgelegt. Mit der Zeit verlieren sie auch ihre Vernetzung mit anderen Hirnstrukturen, wie zum Beispiel Erfahrungen, Gefühle, Sprachverständnis“, erklärt Andreas Lackner. So kann der CI-Träger vielleicht ein Wort hören, ihm jedoch keine Bedeutung zuordnen, oder zwar die Bedeutung kennen, sie aber noch nicht mit eigenen Erfahrungen verbinden. „Die ehemalige Hörbahn muss erst wieder aktiviert und mit den übrigen Hirnregionen vernetzt werden.“ Das gelingt mit Hörtraining – und das ist Tina Wallerstorfers Job.
Hören und Verstehen sind zwei verschiedene Dinge
Die Logopädin betreut mit ihrem Team die Träger von Cochlea-Implantaten an der Hals-Nasen-Ohren-Abteilung des Landesklinikums Wels in Österreich. „Bei der Erstanpassung des Prozessors ist es ganz wichtig, zunächst mit sehr niedriger Lautstärke zu beginnen und sie erst langsam zu steigern. Je nachdem wie gut der Patient Lautstärke toleriert, dauert es zwei bis drei Monate, bis die finale Einstellung erreicht wird. Dann kann das Hörtraining beginnen“, sagt Wallerstorfer.
Wie lang dieses Training dauert, hängt von unterschiedlichen Faktoren ab. „Im Durchschnitt muss man mit ungefähr einem Jahr Rehabilitationsphase rechnen“, weiß die Logopädin. „Es gibt aber auch Patienten, die schon nach drei Monaten ein gutes Sprachverständnis erreichen, bei anderen dauert es länger als ein Jahr.“ Je kürzer der Patient zuvor ertaubt war, desto schneller geht es. Auch Patienten, die zuvor ein Hörgerät hatten, sind im Vorteil, da ihr Hörnerv ständig gefordert wurde. Wer nur einseitig ertaubt ist und auf dem anderen Ohr ohnehin gut hört, muss weniger am Sprachverständnis arbeiten, dafür aber lernen, die beiden unterschiedlichen Höreindrücke miteinander zu vereinbaren.
Mehr Geduld brauchen Menschen, die bereits längere Zeit beidseitig ertaubt sind. Sie hören zwar erstmals wieder Geräusche, ein Gespräch mitzuverfolgen ist zu Beginn jedoch meist noch unmöglich. „Hören und Verstehen sind zwei verschiedene Dinge“, erklärt Wallerstorfer. „Patienten mit sehr langer Hörstörung müssen das Verstehen wieder neu lernen. Dieses findet im Gehirn statt. Hier muss das Hörzentrum wieder neu aktiviert werden.“ Daher beginnt das Training zunächst mit dem Wahrnehmen einfacher Geräusche, wie dem Plätschern des Wassers aus dem Wasserhahn oder dem Schrillen der Türklingel. Mit immer komplexeren Übungen werden die Patienten schließlich bis zur Sprachwahrnehmung begleitet.
Mit viel Motivation dranbleiben
Aber nicht nur körperliche Voraussetzungen beeinflussen die Zeitspanne zwischen Implantation und Sprachverstehen: „Besonders wichtig ist die Motivation der Patienten. Sie müssen in der Anfangsphase am Ball bleiben und aktiv am Prozess teilnehmen“, erklärt die Logopädin.
Motiviert war Louise Skinner auf jeden Fall: Ich habe meinen Audioprozessor den ganzen Tag nicht abgenommen und bin ständig drangeblieben. Am Ende hat sich die harte Arbeit gelohnt.“ Heute, drei Jahre nach der Operation, würde sie nicht mehr ohne ihr Implantat sein wollen: „Mein ganzes Leben hat sich verändert, ich bin selbstsicherer geworden. Jetzt beginne ich auch einfach einmal ein Gespräch, anstatt nur zu lächeln und mich wegzudrehen.“ Und sogar ihren Traumjob hat sie gefunden: Sie unterstützt Schulkinder in der Kommunikation – vor dem Implantat einfach unmöglich.
CI und Hörtraining bei Kindern
Erwachsene CI-Träger konnten vor ihrer Ertaubung oft hören und greifen daher beim Hörtraining auf alte Fähigkeiten zurück. Kinder hingegen lernen meist erst mit dem Implantat zu hören. Daher ist es wichtig, sie möglichst früh beidseitig mit Implantaten zu versorgen. Werden Kinder bis zum Alter von etwa drei Jahren implantiert, können sie größeren Nutzen aus der Lernfähigkeit des Gehirns ziehen als spätversorgte Kinder und weitgehend spielerisch und auf natürlichem Weg hören und sprechen lernen – nahezu so wie normalhörende Gleichaltrige.